Die Schatzinsel Kapitel 8

Die Schatzinsel (1883) von Robert Luis Stevenson

Was bisher geschah:

Im ländlichen englischen Gasthaus „Admiral Benbow“ in der Nähe von Bristol quartiert sich ein alter Seemann ein, William „Bill“ Bones. Jim Hawkins, der Ich-Erzähler des Romans und Sohn des Gastwirtspaares, hält für den trunksüchtigen Bones Ausschau nach einem Einbeinigen, den dieser offenbar fürchtet. Als Bones eines Nachts von einem Seemann, Der Schwarze Hund genannt, aufgesucht wird, kommt es zu einem fürchterlichen Streit zwischen den beiden. Nachdem der Schwarze Hund geflohen ist, erscheint der blinde Bettler Pew bei Bones und überreicht ihm ein Papier mit einem „schwarzen Fleck“, der seine Absetzung bedeutet. Kurz darauf bricht Bones nach einem Schlaganfall tot zusammen. Noch in derselben Nacht überfällt Pew mit seinen Spießgesellen das Gasthaus. Jim kann sich mit seiner Mutter im letzten Moment retten, nicht ohne zuvor heimlich ein Päckchen aus der Seemannskiste von Bones an sich genommen zu haben. Darin befindet sich die Karte einer Insel, auf der sich der Schatz des berüchtigten Piraten Captain Flint befinden soll. Jim Hawkins zeigt die Karte seinem väterlichen Freund, dem Arzt Doktor Livesey, und dem Gutsherrn und Friedensrichter John Trelawney, die daraufhin beschließen, eine Expedition zu jener Insel zu unternehmen. Jim soll als Schiffsjunge ebenfalls mitreisen. Bevor die Reise losgeht, soll Jom Hawkins noch einen Schiffskoch aus der Wirtschaft „Zum Fernrohr“ „anheuern“.

(Quelle: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Schatzinsel)

Kapitel 8

Die Wirtschaft ›Zum Fernrohr‹

Als ich gefrühstückt hatte, gab der Squire mir einen Zettel für »John Silver, Gastwirtschaft zum Fernrohr« und sagte mir, ich könnte das Haus leicht finden; denn ich brauchte bloß an den Docks entlang zu gehen und mich nach einer kleinen Taverne umzusehen, die als Zeichen ein großes Messingfernrohr hätte. Überglücklich über diese Gelegenheit, noch mehr Schiffe und Matrosen zu sehen, machte ich mich auf den Weg; ich kam durch ein großes Gedränge von Menschen und Karren und Warenballen; denn die Tätigkeit an den Docks war um diese Stunde auf ihrem Höhepunkt. Schließlich fand ich denn auch die mir genannte Taverne.

Es war eine recht saubere Wirtschaft. Das Schild war frisch gemalt; vor den Fenstern hingen hübsche rote Gardinen; der Fußboden war mit reinem weißem Sand bestreut. Die Schenke lag zwischen zwei Straßen und hatte einen Eingang von jeder derselben, so dass es in dem großen, niedrigen Schenkzimmer ziemlich hell war, trotz den dichten Wolken von Tabaksqualm.

Die Gäste waren fast lauter Seeleute, und sie sprachen so laut, dass ich an der Tür stehen blieb und beinahe Angst hatte, einzutreten.

Während ich wartete, kam aus einem Nebenzimmer ein Mann heraus, und ich sah auf den ersten Blick, dass dies Long John sein müsste. Sein linkes Bein war dicht an der Hüfte abgenommen, und unter der linken Achsel hatte er eine Krücke, die er mit wunderbarer Geschicklichkeit handhabte und an der er herumhüpfte wie ein Vogel. Er war sehr groß und stark, mit einem Gesicht, so groß wie ein Schinken. Dieses Gesicht war hässlich und blass, aber von klugem und lächelndem Ausdruck. Er schien wirklich in sehr lustiger Laune zu sein, er pfiff vor sich hin, wie er sich so zwischen den Tischen bewegte und die besonders beliebten Gäste mit einem Scherzwort oder mit einem Schlag auf die Schulter begrüßte.

Nun hatte ich, um die Wahrheit zu sagen, gleich bei der ersten Erwähnung Long John Silvers in Squire Trelawneys Brief innerlich gefürchtet, er könnte jener einbeinige Seemann sein, nach dem ich vom alten »Admiral Benbow« so lange Zeit ausgeguckt hatte. Aber ein einziger Blick auf den Mann vor mir genügte. Ich hatte den Kaptein gesehen, und den Schwarzen Hund, und den blinden Bettler Pew, und ich glaubte zu wissen, wie ein Pirat aussähe – jedenfalls nach meiner Meinung ganz anders als dieser reinliche, freundliche Schenkwirt.

Ich bekam sofort neuen Mut, trat über die Schwelle und ging stracks auf den Mann los, der auf seine Krücke gelehnt dastand und mit einem Gast sich unterhielt. Ich hielt ihm den Zettel hin und fragte:

»Herr Silver?«

»Jawohl, mein Junge; so heiß ich ganz gewiss. Und wer bist denn du?«

Als er aber den Brief des Squire sah, schien es ihm ordentlich einen Ruck zu geben. Er gab mir die Hand und sagte ganz laut:

»Aha, ich verstehe! Du bist unser neuer Kajütsjunge; freut mich, dich zu sehen!«

Und er gab mir einen festen Händedruck.

Gerade in diesem Augenblick stand einer von den Gästen plötzlich auf und lief aus der Tür. Diese befand sich ganz in seiner Nähe und er war sofort aus der Straße verschwunden. Aber seine Eile war mir aufgefallen, und ich erkannte ihn auf den ersten Blick. Es war der Mann mit dem käsigen Gesicht, der zuerst in den »Admiral Benbow« gekommen war und dem die beiden Finger fehlten.

»Oho!« rief ich; »haltet ihn! Da ist ja der Schwarze Hund!«

»Wer er ist, darauf gebe ich keinen Pfifferling!« rief Silver; »aber er hat seine Zeche nicht bezahlt. Harry, lauf ihm nach und halte ihn fest!«

Einer von den anderen Gästen, der ebenfalls ganz nahe bei der Tür saß, sprang auf und machte sich zur Verfolgung auf.

»Und wenn er der Admiral Hawke wäre, seine Zeche soll er bezahlen!« rief Silver; dann ließ er meine Hand los und fragte: »Wer, sagtest du, dass er wäre? Der schwarze was?«

»Hund, Herr Silver,« sagte ich. »Hat Herr Trelawney Ihnen nicht von den Piraten erzählt? Er war einer von ihnen.«

»So!« rief Silver. »In meinem Hause! Ben, lauf und hilf Harry! So? War das einer von diesen Kerls? Hört mal, Morgan! Ihr habt ja wohl mit ihm getrunken? Kommt mal her!«

Der Mann, den er Morgan nannte – ein alter grauhaariger Matrose mit einem mahagoniroten Gesicht –, kam mit einer ziemlich dämlichen Miene heran, indem er seinen Priem im Munde herumrollte.

»Na, Morgan!« sagte Long John sehr ernst; »Ihr habt doch wohl nie in Eurem Leben früher diesen Schwarzen – Schwarzen Hund gesehen? Nicht wahr?«

»Gewiss nicht, Herr!« sagte Morgan, mit einem Kratzfuß.

»Ihr kanntet doch seinen Namen nicht? Oder?«

»Nein, Herr!«

»Beim heiligen Donnerwetter, Tom Morgan, da könnt Ihr Euch freuen!« rief der Wirt. »Hättet Ihr mit einem solchen Kerl was zu tun gehabt, Ihr hättet mein Haus mit keinem Fuß mehr betreten, darauf könnt Ihr Euch verlassen! Und was sagte er denn zu Euch?«

»Das weiß ich nicht mehr so recht, Herr,« antwortete Morgan.

»Habt Ihr einen Kopf auf Euren Schultern, oder ist das ein verdammtes Kalbsgekröse?« rief Long John. »Weiß ich nicht mehr recht! – Ach nee! Vielleicht wisst Ihr auch nicht mehr so recht, mit wem Ihr überhaupt gesprochen habt? Na, besinnt Euch mal, wovon hat er denn geplappert – Reisen, Kapitäne, Schiffe? Raus damit! Was war’s denn?«

»Wir sprachen so von Kielholen,« antwortete Morgan.

»Von Kielholen? Ach nee! Das war ja eine recht passende Unterhaltung, Gottverdammich! Setzt Euch man wieder hin, Ihr seid ein Schafskopf.«

Während Morgan wieder auf seinen Stuhl lossteuerte, flüsterte Silver mir in vertraulichem Ton, durch den ich mich sehr geschmeichelt fühlte, ins Ohr:

»Der Tom Morgan ist ein ganz braver Kerl – bloß ein fürchterlicher Döskopf. Aber nun,« fuhr er laut fort, »lasst mich doch mal nachdenken – Schwarzer Hund? Nein – den Namen kenne ich nicht; ganz gewiss nicht. Aber halt – mir ist doch so – ja, ich habe den Kerl mal gesehen! Er kam manchmal mit einem blinden Bettler zu mir – jawoll, das tat er!«

»Dass er das tat, darauf können Sie sich verlassen,« sagte ich. »Ich habe auch den blinden Mann gekannt. Pew war sein Name.«

»Richtig!« rief Silver, jetzt ganz aufgeregt. »Pew! Das war sein Name. Ganz gewiss! Ah – der Kerl sah wie ein Haifisch aus, wahrhaftig! Aber wenn wir diesen Schwarzen Hund zu fassen kriegen, na, da wird aber Kapitän Trelawney Augen machen! Ben ist ein guter Läufer – da sind wenig Seeleute, die besser laufen können als Ben. Der muss ihn einholen, Hand über Hand, Gottverdammich! Von Kielholen sprach er? Ach nee! Na, den will ich kielholen!«

Die ganze Zeit über, während er diese Sätze hervorstieß, humpelte er auf seiner Krücke in der Schenkstube herum, schlug alle Augenblicke mit der flachen Hand auf einen Tisch und war offenbar so aufgeregt, dass er einen Richter in Old Bailey oder einen Polizisten von Bow Street von seiner Unschuld überzeugt haben würde. Mein Verdacht war wieder rege geworden, als ich den Schwarzen Hund im »Fernrohr« wiedergefunden hatte, und ich beobachtete den Schiffskoch sehr scharf. Aber er war für mich ein zu fixer Schauspieler und ein zu abgefeimter Schlaukopf, und als nach einiger Zeit die beiden Matrosen ganz außer Atem zurückkamen und meldeten, sie hätten in einem Gedränge die Spur verloren und wären selber für Spitzbuben ausgescholten worden, da hätte ich mich ohne Bedenken für Long John Silvers Unschuld verbürgt.

»Sieh mal, Hawkins,« sagte er zu mir, »es ist doch ein verdammt hartes Ding für einen Mann wie mich, wenn so was passiert – nicht wahr? Da ist Käpp’n Trelawney – was soll der davon denken? Hier sitzt der verdammte Sohn von einem Holländer in meinem eigenen Haus und trinkt von meinem eigenen Rum! Hier kommst du zu mir rein und sagst mir’s gerade auf den Kopf zu! Und hier lasse ich ihn vor meinen eigenen Augen uns allen durch die Lappen gehen! Na, Hawkins, tu mir den Gefallen und stelle dem Käpp’n die Geschichte ins richtige Licht! Du bist ja man ein Junge, das ist richtig, aber du bist helle wie ’n Dreierlicht. Das hab ich gleich gesehen, als du in die Tür kamst. Na, die Sache ist doch so: was konnte ich denn tun, mit diesem alten Stück Holz, worauf ich rumhumple? Als ich noch ein kriegstüchtiger Sergeant bei den Seesoldaten war, da hätte ich ihn bald beim Wickel gehabt, und da hätte er meine Fäuste kennengelernt; aber jetzt –«

Plötzlich schwieg er und sein Unterkiefer fiel herunter, wie wenn ihm auf einmal etwas eingefallen wäre.

»Die Zeche!« rief er: »Drei Lagen Rum! Herrjemine, Gottverdammich – hab‘ ich richtig die Zeche vergessen!«

Und er fiel auf eine Bank und lachte, daß ihm die Tränen über die Backen liefen. Unwillkürlich mußte ich mitlachen, und so lachten wir beide, immer von frischem, dass die ganze Schenkstube dröhnte.

[…]

(Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/stevenso/schatzin/chap008.html)